Kampf der Ernährungssysteme
Benedikt Haerlin, 21.9.21
Der am 23. September in New York und an den Bildschirmen der Welt stattfindende Food Systems Summit der UNO könnte ein Meilenstein sein: Der Kampf gegen den wachsenden Hunger in der Welt wird verbunden mit Über- und Fehlernährung, Klimawandel, Artensterben, globaler Ungerechtigkeit und Frauenrechten.
Doch leider ist das Gegenteil der Fall – es ist Gefahr im Verzuge!
Die Versorgung aller Menschen mit genügend gesundem Essen ist kein Produktionsproblem. Die globale Landwirtschaft produziert heute so viele Kalorien, dass davon 12 statt der geschätzten 7,9 Milliarden Menschen auf der Welt davon satt werden könnten. Es sind Armut und Ungerechtigkeit, mangelnder Zugang zu Land, Menschenrechten und Wissen, Kriege und staatliche Ignoranz, auch im Umgang mit der aktuellen COVID-Krise, die gegenwärtig die Zahl der hungernden und unterversorgten Menschen wieder rapide in die Höhe treiben. Zudem ist mittlerweile die geradezu explodierende Fehl- und Überernährung eine größere Krankheits- und Todesursache als der Hunger. Destruktive landwirtschaftliche Praktiken von der Überdüngung und Vergiftung bis zur Abholzung für Monokulturen sind zudem die wichtigste Ursache für das globale Artensterben. Sie sind zusammen mit der Vernichtung von Lebensmitteln, Verpackungswahn und dem Aufwand der Lebensmittelproduktion auch die größte Quelle menschengemachter Klimagase (30-40%).
Diesen komplexen Knoten unserer Ernährungssysteme als Ganzes zu betrachten und nach systematischen Auswegen und Lösungen zu suchen, ist das Verdienst des Konzeptes der „Food Systems“, das sich im vergangenen Jahrzehnt seit der Verabschiedung des Weltagrarberichts der UN und Weltbank mühsam durchgesetzt hatte.
Warum rufen dann treibende Kräfte dieser Erkenntnis, Umwelt-, Entwicklungs- und Bäuer*innen-Organisationen, engagierte Wissenschaftler*innen und hunderte weitere Nichtregierungsorganisationen von Brot für die Welt bis La Via Campesina nun zum Boykott des Food Systems Summit auf? Warum wird er selbst vom eigenen UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung Michael Fakhri scharf kritisiert? Weil sie nicht nur bei den intransparenten Vorbereitungen weitgehend ausgeschlossen wurden und befürchten, dass ihre Analyse und ihre Lösungsansätze jetzt zu gänzlich anderen Zwecken missbraucht werden sollen.
Die Idee für diesen Gipfel stammt vom Weltwirtschaftsforum in Davos, organisiert wurde es von einer in dieser Form neu auftretenden Allianz von beteiligten Interessengruppen (englisch: stakeholders) aus internationalen Finanz-, Handels-, Internet-, Chemie-, Gentechnik-, Agrar- und Ernährungsunternehmen, Stiftungen wie der Gates und Rockefeller Foundation, internationalen zwischenstaatlichen Organisationen wie der Weltbank, großen internationalen und nationalen wissenschaftlichen Einrichtungen, einzelnen Staatsorganen und einigen Nichtregierungsorganisationen. Wesentlich mitorganisiert wurde er im Zwielicht zwischen interstaatlicher UN-Politik und globalen Privatinteressen von der Londoner Agentur Marchmont Communications, samt einem für UN-Gipfel ungewöhnlich „smarten“ Internetauftritt. Nicht vertreten sind die tatsächlich betroffenen Bäuerinnen und Bauern, die Hungernden und jene zivilgesellschaftlichen Organisationen und auch Expert*innen, die sich am engagiertesten für deren Interessen und Rechte einsetzen.
Wer definiert die Systeme? Die neuen und alten globalen Player der Wertschöpfungskette und deren Kapitäne haben eine andere Art von mit künstlicher Intelligenz und Clouds neu geöltem „system“ vor Augen als Kleinbäuerinnen, viele Gemeinden und auch aufgeklärte Verbraucher in den Industrieländern. Die Biorevolution von BAYER / Monsanto ist eine andere Vision als die agrarökologische Transformation der internationalen Expert*innen des Panels für nachhaltige Ernährungssysteme, IPES-Food. Und das Konzept der „nature positive production“, das u.a. als Grundlage künftiger CO2-Boni gedacht ist, mit denen große Landbesitzer richtig viel Geld verdienen könnten, ist etwas anderes als naturverträgliche kleinbäuerliche Anpassung an den Klimawandel.
Durchaus vertreten werden dagegen einige ihrer Argumente und Konzepte sein, allerdings in der Art, wie PR-Agenturen und politische spin-doctors Begriffe wie gerechte Teilhabe, Recht auf Nahrung, Ernährungssouveränität und vor allem das Konzept der Agrarökologie gerne definieren möchten: Nicht als einen ganzheitlichen Ansatz, um aus der Krise der industrialisierten Land- und Ernährungswirtschaft herauszukommen, sondern als eine durchaus interessante, wenn auch etwas romantische Technologie neben vielen anderen.
Und um Technologien geht es den Treibern, die diesen Food Systems Summit ohne Transparenz und echte Demokratie organisiert haben, vor allen Dingen: Gentechnik müsse endlich weltweit zum Handwerkszeug der Landwirtschaft werden, Bio allein könne die Welt nicht ernähren, verkündet etwa besonders prominent der ehemalige Leiter des Bioforschungszentrums FiBL, Urs Niggli, im wissenschaftlichen Beirat des UNFSS. „Präzisionslandwirtschaft“ mit Hilfe von Satelliten, Drohnen und „big data“ sei der Königsweg zu neuer Nachhaltigkeit, erklären die neu daran interessierten Unternehmen und Stiftungen aus der IT-Branche. „Synthetische Biologie“, der molekularbiologische Umbau der Natur, werde Klima und Artenvielfalt retten. Nur eine weitere Beschleunigung und noch umfänglichere Finanzierung der Forschung für möglichst disruptive Innovationen und „game changer“ könne mit den Herausforderungen und Katastrophen Schritt halten. Ihre Komplexität sei nur mit künstlicher Intelligenz noch beherrschbar.
Ein wildes Sammelsurium von Lösungen und Lösungspfaden diesen Inhalts wird dabei bildlich und narrativ, ähnlich der Autowerbung, unterlegt mit bunten und herzanrührenden Bildern von Bäuerinnen und jungen, diversen Unternehmer*innen und jener Art von Natur, wie sie nur im Fernsehen vorkommt und immer beliebter wird. In den Zoom-Meetings und Videobotschaften gibt es sie auch wirklich, diese neue, optimistische und gänzlich unideologische „lets do it“-Welt.
Mit der Wirklichkeit hat sie nicht allzu viel zu tun: Der Food Systems Summit verabschiedet keine konkreten Verpflichtungen von Staaten oder Unternehmen, sondern bietet lediglich eine Online-Umfrage, in die freiwillige Verpflichtungen eingetragen werden können. Er könnte aber viel dazu tun, den Unterschied zwischen gewinnorientierten und dem Gemeinwohl verpflichteten Organisationen sowie souveränen Staaten dabei zu verwischen. Schließlich sind alle ja irgendwie stakeholder. Zudem könnte er, so forderten es die Wissenschaftsgranden hinter dem Prozess in der Zeitschrift Nature, einen mehr oder weniger vagen Auftrag formulieren, das bisherige internationale System der Landwirtschaftspolitik mit der Welternährungsorganisation FAO und ihrem Komitee für Ernährungssicherheit (CFS), an dem neben Staaten auch tatsächlich die Zivilgesellschaft beteiligt ist, aus den Angeln zu heben.
Den alten Haudegen der internationalen industriellen Agrarforschung und Entwicklungspolitik des vergangenen Jahrhunderts Joachim von Braun (71) und Louise Fresco (69) schwebt ein neues, relativ selbsternanntes und elitäres Gremium von Wissenschaftler*innen (mit ihnen an der Spitze?) vor, dessen Empfehlungen künftig, wie in der Klimapolitik die des Weltklimarats IPCC, die Grundlage der agrarpolitischen Ausrichtung der internationalen Investitionen von FAO, IFAD, Weltbank, Internationalem Währungsfonds und anderen sowie von Nationalstaaten werden könnten.
Eine solche postdemokratische Technokratenherrschaft, die von sozialromantischer „Ideologie“ befreit wird, wie sie der Gemeinde von Wissenschaftler*innen des Weltagrarberichts und auch des CFS nachgesagt wird, könnte auch dem seit einem Jahr amtierenden Chef der FAO und ehemaligen stellvertretenden chinesischen Agrarminister, Dr. Qu Dongyu, besser gefallen als das gegenwärtige demokratischere Gerangel bei der FAO in Rom. Qu promovierte übrigens an der führenden europäischen Universität für Agrartechnologie, Wageningen, deren Präsidentin Louise Fresco ist, die einst im Streit die FAO verließ. Heute ist sie im Nebenberuf im Verwaltungsrat des von China erworbenen Agrar- und Gentechnik-Multis Syngenta.
Bleibt zu hoffen, dass sich gegen diese schöne neue Welt genügend Widerstand regt. Auch wir werden das unsere dazu beitragen. Bleibt aber zunächst zu bedauern, dass die rücksichtslose Food Systems-Initiative der Industrie- und Wissenschaftsoligarchen einem wirklichen Fortschritt beim gemeinsamen Aufdröseln des eingangs beschriebenen gordischen Knotens eher im Wege steht und die Fronten verhärtet hat, statt durchlässig zu machen.