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26.09.2024 |

Gesundheitscheck: Patient Erde überschreitet Belastungsgrenzen

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Cover des Berichts (Design: bit.ly/Globaia, bit.ly/CCBY4_0)

Unser Planet befindet sich in einem desolaten Zustand und das Risiko steigt, dass die Widerstandsfähigkeit und Stabilität des Erdsystems bald völlig ins Wanken geraten könnten. Daher unterziehen Wissenschaftler*innen den Patienten künftig einem jährlichen Gesundheitscheck, um die Lage im Auge zu behalten, Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln und die Ursachen der Leiden zu identifizieren. Der erste Befund der jährlichen Kontrolluntersuchung wurde nun am 24. September vorgelegt: der „Planetary Health Check 2024“ erstellt von der Initiative „Planetary Boundaries Science” (PBScience) unter der Leitung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Neun biophysikalische Systeme und Prozesse, die das Funktionieren lebenserhaltender Systeme auf der Erde regulieren, wurden dafür genauer unter die Lupe genommen um zu sehen, ob wir uns noch in dem sicheren Bereich bewegen, der für das Funktionieren des jeweiligen Prozesses definiert wurde. Die neun planetaren Grenzen sind Klimawandel; Überladung mit neuartigen Stoffen; Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre; Aerosolbelastung der Atmosphäre; Versauerung der Ozeane; Störung der biogeochemischen Kreisläufe; Veränderung in Süßwassersystemen; Veränderung der Landnutzung und Veränderung in der Integrität der Biosphäre. Sobald eine Grenze überschritten wird, erhöht sich die Gefahr, dass kritische Funktionen der Erde dauerhaft geschädigt werden. „Die Diagnose im Gesundheitscheck lautet: Der Patient Erde befindet sich in einem kritischen Zustand. Sechs von neun planetaren Grenzen sind überschritten. Insgesamt nimmt bei sieben dieser Erdsystemprozesse der Druck so stark zu, dass ein Großteil davon bald eine Hochrisikozone erreichen wird”, warnt PIK-Direktor Johan Rockström.

Das Konzept der Planetaren Grenzen ist nicht neu: 2009 veröffentlichte eine Gruppe von 29 Wissenschaftler*innen im Fachjournal Nature mit „A safe operating space for humanity“ – der sichere Betriebsbereich der Menschheit – einen wegweisenden Artikel. 2015 wird in einem Update festgestellt, dass die Menschheit in vier von insgesamt neun Bereichen bereits deutlich jenseits des sicheren Betriebsbereiches operiert: beim Klimawandel, Biodiversitätsverlust, dem Eintragen von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre und Landnutzungsänderungen. 2023 erschien eine weitere Publikation, die erstmals alle neun Prozesse und Systeme vollständig überprüft, die zusammen die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Planeten bestimmen. Mit dem „Planetary Health Check“ wird diese Bestandsaufnahme nun verstetigt und soll jedes Jahr Erdbeobachtungsdaten mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und multidisziplinären Ansätzen kombinieren. „Sechs der neun planetaren Grenzen sind überschritten, was in dem Bericht erstmals durch hochauflösende räumliche Karten lokaler und regionaler Trends für alle neun Grenzen verdeutlicht wird“, erklärt PIK-Forscherin Levke Caesar, Co-Leiterin von PBScience und eine der Hauptautorinnen des PHC. Die Botschaft sei klar: „Lokale Maßnahmen haben Auswirkungen auf die Erde, und ein Planet, der unter Druck steht, kann sich auf überall und auf jeden auswirken. Um das menschliche Wohlergehen, die wirtschaftliche Entwicklung und stabile Gesellschaften zu sichern, ist ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, bei dem der Schutz des Planeten im Fokus steht“, betont Caesar.

Der Bericht untersucht 13 Kontrollvariablen zu den neun planetaren Grenzen, um sich einen Gesamtüberblick über den Gesundheitszustand unserer Erde zu verschaffen. Bei den sechs bereits überschrittenen Grenzen handelt es sich um den Klimawandel, die Integrität der Biosphäre, Landnutzungsänderungen, Veränderungen in Süßwassersystemen, dem Eintrag von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre sowie die Überladung mit neuartigen Stoffen. In diesen sechs Bereichen verschlimmert sich die Lage zunehmend. „Unsere aktualisierte Diagnose zeigt, dass lebenswichtige Organe des Erdsystems geschwächt werden, was zu einem Verlust an Widerstandsfähigkeit führt und das Risiko, Kipppunkte zu überschreiten, steigen lässt“, warnt Levke Caesar. In puncto Klimawandel zeigt sich, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre seit der Industrialisierung kontinuierlich angestiegen ist und mittlerweile einen Höchststand erreicht hat, der höher ist als zu jedem anderen Zeitpunkt in den letzten 15 Millionen Jahren. Die Erderwärmung hat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts beschleunigt und die globalen Durchschnittstemperaturen sind jetzt höher als zu jedem anderen Zeitpunkt seit der Entstehung menschlicher Zivilisationen auf der Erde. Auch um die Biodiversität ist es schlecht bestellt: Die beiden Kontrollwerte zum weltweiten Verlust der genetischen Vielfalt und dem Verlust der funktionalen Integrität (gemessen als die den Ökosystemen zur Verfügung stehende Energie) haben den sicheren Bereich überschritten und diese Entwicklung beschleunigt sich, gerade in Regionen mit intensiver Landnutzung. Dies gibt Grund zur Sorge, dass die Biosphäre der Erde an Widerstandsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit und ihrer Fähigkeit verliert, verschiedene Belastungen abzumildern, einschließlich derer, die durch die Überschreitung anderer planetaren Grenzen entstehen.

Als Folge von Landnutzung und zunehmend auch aufgrund des Klimawandels sind die Wälder in den letzten Jahrzehnten weltweit und auf regionaler Ebene in allen wichtigen Waldbiomen kontinuierlich geschrumpft. Die meisten Regionen befinden sich bereits in der Hochrisikozone, weit jenseits ihrer sicheren Grenzen, während einige Gebiete erst vor kurzem diese überschritten haben (z.B. im gemäßigten und tropischen Amerika). Bei den Süßwassersystemen werden zwei Indikatoren herangezogen: das „grüne Wasser“, das in Pflanzen oder im Boden gespeichert ist, und „blaues Wasser“, das in Flüssen und Seen steckt. Hier kam es seit dem späten 19. Jahrhundert zu umfassenden Veränderungen bei lokalen Wasserkreisläufen und der Feuchtigkeit von Böden, wobei die planetaren Grenzen im frühen 20. Jahrhundert überschritten wurden. Auf etwa 18% der globalen Landfläche verzeichnen Flüsse, Seen und Wasserreservoirs Abweichungen jenseits des sicheren Betriebsbereichs, bei den Bodenwasservorräten sind 16% der globalen Landfläche betroffen. „Die zunehmende Variabilität und Instabilität der globalen Süßwasser- und Landwassersysteme gibt Anlass zu wachsender Sorge um die Bewirtschaftung der Wasserressourcen und die Stabilität der Umwelt“, heißt es in der Zusammenfassung des Berichts. Bei den biogeochemischen Kreisläufen werden Phosphor und Stickstoff ins Visier genommen: Die Verwendung dieser Stoffe in der Landwirtschaft hat die sicheren Grenzwerte überschritten, wodurch es zu erheblichen ökologischen Veränderungen kam, wie Wasserverschmutzung, Eutrophierung, schädlichen Algenblüten bis hin zum Entstehen von sogenannten „Todeszonen“ in Süßwasser- und Meeresökosystemen. Dieses Problem ist in den Industrieländern seit langem bekannt und wird auch in Schwellenländern zunehmend zum Problem.

Der sechste untersuchte Bereich ist die Einführung neuartiger Stoffe (novel entities) weltweit. Dazu gehören etwa synthetische Chemikalien und Stoffe (z.B. Mikroplastik, endokrine Disruptoren und organische Schadstoffe), radioaktives Material oder genetisch veränderte Organismen. Solche Stoffe wurden in großem Umfang eingeführt, doch ein Großteil wurde noch nicht hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt getestet. „Dies deutet darauf hin, dass die Grenze wahrscheinlich überschritten ist, auch wenn die genauen Zahlen ungewiss sind“, so die Forscher*innen. „Neuartige Stoffe können kritische Prozesse im Erdsystem stören (z.B. haben FCKW die Ozonschicht erheblich geschädigt), Ökosysteme schädigen (so haben Pestizide einen erheblichen Rückgang der Insekten- und Bestäuberpopulationen verursacht) und zu langfristigen, möglicherweise irreversiblen Veränderungen in der Umwelt führen, einschließlich der Verschmutzung von Böden und Gewässern und der Veränderung natürlicher Habitate.“ Neben den sechs bereits überschrittenen planetaren Grenzen steht das Überschreiten einer siebten unmittelbar bevor: die Versauerung der Ozeane. Durch die Aufnahme von CO2 an der Meeresoberfläche sinken der pH-Wert und der Aragonit-Sättigungsgrad des Wassers. Gerade in Regionen in höheren Breitengraden, wie der Arktis und dem Südlichen Ozean, hat die Aragonit-Sättigung stark abgenommen. Diese Gebiete sind von entscheidender Bedeutung für die „marine Kohlenstoffpumpe“ und die globalen Nährstoffkreisläufe, die Grundlage sind für die Produktivität der Meere, die biologische Vielfalt und die weltweite Fischerei, heißt es im PHC. Die zunehmende Versauerung stelle eine wachsende Bedrohung für die marinen Ökosysteme dar, vor allem für jene Organismen, die für die Schalenbildung auf Kalziumkarbonat angewiesen sind. „Wenn wir uns die Gesundheitsindikatoren der Erde genauer ansehen, erkennen wir, dass die meisten von ihnen bald in der Hochrisikozone liegen werden”, unterstreicht Boris Sakschewski, Co-Leiter von PBScience und Hauptautor des Berichts. „Diesen Trend müssen wir umkehren. Wir wissen, dass alle lebenswichtigen Erdsystemprozesse zusammenwirken und jeder einzelne geschützt werden muss, um das gesamte System zu schützen.“ (ab)

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