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15.09.2023 | permalink
Sechs Belastungsgrenzen des Planeten bereits überschritten
Um den Zustand der Erde ist es nicht gerade rosig bestellt: Von neun planetaren Belastungsgrenzen wurden bereits sechs überschritten und unser Planet befindet sich damit deutlich jenseits des sicheren Handlungsraums für die Menschheit. Ob beim Klimawandel, der Intaktheit der Biosphäre, Entwaldung, der Einbringung neuartiger Stoffe, Wassernutzung oder beim Stickstoff- und Phosphorkreislauf: Der Mensch hat gravierend eingegriffen in das System Erde und es gehörig aus dem Gleichgewicht gebracht. Das zeigt eine Studie, die am 13. September im Fachblatt „Science Advances“ erschienen ist. Die beteiligten 29 Autor*innen warnen, dass der Druck im Kessel weiter steigt. „Wir können uns die Erde als einen menschlichen Körper vorstellen und die planetaren Grenzen als eine Form des Blutdrucks“, erklärt die Hauptautorin der Studie, Katherine Richardson von der Universität Kopenhagen. „Ein Blutdruck von über 120/80 bedeutet zwar nicht, dass ein sofortiger Herzinfarkt droht, aber er erhöht das Risiko.“ Und die aktuellen Fieber- und Blutdruckmessungen der Wissenschaftler*innen zeigen ein düsteres Gesamtbild. „Wissenschaft und Gesellschaft sind äußerst besorgt über die zunehmenden Anzeichen, dass die Widerstandsfähigkeit des Planeten schwindet, wie sich in der Überschreitung der planetaren Grenzen zeigt. Dies bringt mögliche Kipppunkte näher und verringert die Chance, die wir noch haben, die planetare Klimagrenze von 1,5°C einzuhalten“, sagte Johan Rockström, Mitautor der Studie und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).
Die Studie ist bereits die zweite Aktualisierung der Planetaren Grenzen seit der im Jahr 2009 in der Zeitschrift Nature veröffentlichten ersten Bestandsaufnahme und einem Update 2015. Damals waren der Bereich der neuen gefährlichen Substanzen, der atmosphärische Aerosolgehalt und bei der Intaktheit der Biosphäre die funktionale Vielfalt unbestimmt geblieben. Bei der neuen Veröffentlichung wurden nun erstmals alle neun Prozesse und Systeme, welche zusammen die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Planeten bestimmen, vollständig überprüft. „Dieses Generalupdate der Planetaren Grenzen zeigt deutlich: die Erde ist ein Patient, dem es nicht gut geht. Der Druck auf den Planeten nimmt weiter zu, dabei werden lebenswichtige Belastungsgrenzen überschritten“, sagt Rockström. Wir wissen nicht, wie lange wir entscheidende Grenzen derart überschreiten können, bevor die Auswirkungen zu unumkehrbaren Veränderungen und Schäden führen.” In einer Grafik ist mittig ein runder grüner Bereich zu sehen – der sichere Handlungsbereich der Menschheit. Die neun planetaren Grenzen sind als Tortenstücke dargestellt. Im grünen Kreis befinden wir uns noch bei der Belastung der Atmosphäre durch Aerosole – Kleinstpartikel wie etwa Ruß in der Luft, die bei Verbrennungsprozessen entstehen. Die Datenlage ist hier aber dünn. Der Studie zufolge kann es jedoch regional zu Überschreitungen kommen, z.B. in Südasien, da sich der Aerosolgehalt auf Niederschlagsmuster auswirkt und es so in Monsunregionen wohl weniger Niederschläge geben wird. Ebenfalls noch grün eingefärbt ist der Bereich Versauerung der Ozeane, doch auch hier könnte die kritische Grenze bald überschritten sein. Beim Ozonabbau in der Stratosphäre gibt es grünes Licht: Hier ist die Belastung zurückgegangen und es gibt lediglich noch regionale Überschreitungen. „Obwohl das in der Antarktis immer noch der Fall ist, zeichnet sich bereits eine Verbesserung ab – dank globaler Initiativen, die durch das Montrealer Protokoll erreicht wurden“, betont Richardson.
In der Grafik ragen die Tortenstücke in den neun Bereichen unterschiedlich lang über den grünen Kreis in der Mitte hinaus. Die Länge der „Wedges“ zeigt an, wie der aktuelle Zustand des jeweiligen Prozesses in Bezug auf den Abstand zur planetaren Grenze (Ende des grünen Bereiches) und zum holozänartigen Basiswert (Ursprung des Diagramms) ist. Die Stücke werden mit zunehmendem Risiko gelb bis rot eingefärbt. Ein hohes Risiko ist lilafarben gekennzeichnet. Manche Tortenstücke werden erst später lila als andere, weil die Überschreitung möglicherweise mit einem geringeren Risiko für den Planeten einhergeht als in anderen Bereichen. Im Bereich „Integrität der Biosphäre“ ist die größte Grenzüberschreitung bei der Artenvielfalt zu beobachten. „Von schätzungsweise 8 Millionen Tier- und Pflanzenarten sind etwa 1 Million vom Aussterben bedroht, und mehr als 10% der genetischen Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt könnten in den letzten 150 Jahren verloren gegangen sein. Damit ist die genetische Komponente der Integritätsgrenze der Biosphäre deutlich überschritten“, schreiben die Autor*innen. Für die zweite Komponente, die Funktionsfähigkeit (Integrität) der Biosphäre im Erdsystem, die bisher noch unbestimmt war, wurde eine neue Kontrollvariable für die Grenze eingeführt. Die Analyse ergab auch hier eine Überschreitung, welche schon seit dem späten 19. Jahrhundert besteht, als die Land- und Forstwirtschaft weltweit stark ausgedehnt wurde. „Neben dem Klimawandel ist die Funktionsfähigkeit der Biosphäre die zweite Säule der Stabilität unseres Planeten“, erklärt Wolfgang Lucht, Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse am PIK. „Und wie beim Klima destabilisieren wir derzeit auch diese Säule, indem wir zu viel Biomasse entnehmen, zu viele Lebensräume zerstören, zu viele Flächen entwalden usw. Unsere Forschung zeigt, dass in Zukunft beides Hand in Hand gehen muss: die globale Erwärmung begrenzen und eine funktionierende Biosphäre erhalten“, so Lucht.
Die erstmalige Bewertung zur Einbringung neuartiger Stoffe (novel entities) zeigt, dass auch hier die Grenze überschritten ist. Zu den Novel Entities gehören synthetische Chemikalien und Stoffe (z.B. Mikroplastik, endokrine Disruptoren und organische Schadstoffe), vom Menschen mobilisiertes radioaktives Material, inklusive nuklearer Abfälle und Kernwaffen, sowie die Veränderung der Evolution durch den Menschen, genetisch veränderte Organismen und andere direkte Eingriffe des Menschen in evolutionäre Prozesse. Die Wissenschaftler*innen betonen, dass die Auswirkungen dieser Stoffe auf das Erdsystem als Ganzes noch weitgehend unerforscht sind. Der Rahmen der planetaren Grenzen befasse sich nur mit der Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Erdsystems und nicht mit den Gefahren für den Menschen. Daher bleibe es „eine wissenschaftliche Herausforderung, zu beurteilen, wie viel Belastung durch neuartige Entitäten das Erdsystem verträgt, bevor es unumkehrbar in einen potenziell weniger bewohnbaren Zustand übergeht.“ Hunderttausende von synthetischen Chemikalien werden heute hergestellt und in die Umwelt freigesetzt. Bei vielen Stoffen sind die potenziell weitreichenden und dauerhaften Folgen ihrer Freisetzung auf die Prozesse des Erdsystems, gerade auf die funktionelle Integrität der Biosphäre, kaum bekannt, und ihre Verwendung ist schlecht geregelt. Die Wissenschaftler*innen geben jedoch zu bedenken, dass die Menschheit in der Vergangenheit wiederholt von unbeabsichtigten Folgen einer Freisetzung überrascht worden sei, z.B. von Insektiziden wie DDT oder der Wirkung von FCKW auf die Ozonschicht. Für diese Arten von neuartigen Substanzen sei also der einzige wirklich sichere Betriebsraum, der die Aufrechterhaltung holozänähnlicher Bedingungen gewährleisten kann, ein Raum, in dem diese Stoffe nicht vorhanden sind – es sei denn, ihre potenziellen Auswirkungen auf das Erdsystem wurden gründlich untersucht.
Ebenfalls schon im lilafarbenen Bereich angekommen sind wir bei biogeochemischen Kreisläufen, wie Stickstoff und Phosphor, die durch Landwirtschaft und Industrie stark beeinflusst wurden. Im Bereich Landsysteme stehen die Signale bereits auf Rot: Waldflächen in borealen, gemäßigten und tropische Zonen wurden abgeholzt und seit dem letzten Update der Studie 2015 hat sich für die meisten Regionen die Entwaldung verstärkt. „Landnutzungsänderungen und Feuer führen zu schnellen Veränderungen in Waldgebieten und die Abholzung im tropischen Regenwald im Amazonasgebiet hat dazu geführt, dass die planetare Grenze nun überschritten ist“, heißt es in der Studie. Beim Süßwasser steht die Ampel vorerst „nur“ auf Orange. Die Grenze bezieht sich in diesem Bereich nun sowohl auf sogenanntes „grünes“ Wasser (das in landwirtschaftlichen und natürlichen Böden und Pflanzen enthalten ist) als auch auf „blaues“ Wasser (Wasser in Flüssen, Seen usw.). Beide dieser Grenzen sind jedoch überschritten. Rockström bezeichnet es als einen „echten Durchbruch“, dass der sichere Handlungsraum für die Menschheit auf der Erde nun wissenschaftlich quantifiziert wurde. „Dies gibt uns einen Leitfaden in die Hand für notwendige Maßnahmen und liefert das erste vollständige Bild der Kapazitäten unseres Planeten, den von uns erzeugten Druck abzufedern.“ Er betont, dass das Bereitstehen dieses Wissens eine ausgezeichnete Grundlage dafür sei, durch systematischere Anstrengungen Schritt für Schritt die Widerstandsfähigkeit des Planeten zu schützen, erholen zu lassen und wieder herzustellen. In diese Richtung geht auch der abschließende Satz der Studie: „Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den planetaren Grenzen schränken die Menschheit nicht ein, sondern regen sie zu Innovationen für eine Zukunft an, in der die Stabilität des Erdsystems grundsätzlich bewahrt und gesichert wird.“ (ab)