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03.07.2023 |

HLPE fordert Reduzierung der Ungleichheit in Ernährungssystemen

Vietn
Bäuerin in Vietnam (Foto: CC0/Pixabay)

Die Welt ist gekennzeichnet durch enorme Ungleichheiten, die gerade in Ernährungssystemen besonders stark ausgeprägt sind: Das bereits alarmierende Ausmaß an Hunger und Unterernährung verschärft sich weiter und globale und nationale Ziele in diesem Bereich drohen in weite Ferne zu rücken, wenn Ungleichheiten nicht endlich verringert werden. Das ist die Kernbotschaft eines Berichts, der vom Hochrangigen Expertengremium für Ernährungssicherheit und Ernährung (HLPE) des Welternährungsausschuss (CFS) verfasst wurde. Das CFS ist das inklusivste Gremium auf UN-Ebene, das sich mit der Welternährung befasst, da ihm neben Vertreter*innen von Regierungen, internationalen und UN-Organisationen auch Akteure aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und dem Privatsektor angehören. Der HLPE liefert dem CFS die wissenschaftliche Expertise und Handlungsempfehlungen und legte 2019 einen vielbeachteten Bericht zu Agrarökologie vor. Der neueste und 18. Themenbericht des Gremiums „Reducing inequalities for food security and nutrition” wurde am 15. Juni auf einer Veranstaltung in Rom vorgestellt. „Er zeigt, dass die Lage im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung von Region zu Region sehr unterschiedlich aussieht, aber keine einzige Region ist frei von jeglichen Formen der Mangelernährung, d.h. jede Region hat zumindest mit einem Aspekt davon zu kämpfen. Aber innerhalb der Regionen gibt es große Unterschiede“, erklärte Bhavani Shankar, Professor für Ernährung und Gesundheit an der Universität Sheffield, der bei der Erstellung des Berichts die Federführung innehatte. „Die Ungleichheiten innerhalb von Ländern sind enorm, in vielen Fällen nehmen sie sogar zu und das ist ein großer Teil des Problems. Und jene Gruppen, die in puncto Ernährungssicherheit am schlechtesten dastehen, sind Frauen, Menschen mit geringerer Bildung, indigene Völker und arme Menschen“, sagte er in Rom. Der Vorsitzende des HLPE, Bernard Lehmann, schreibt im Vorwort des Berichts: „Ungleichheiten bei Ernährungssicherheit und Ernährung bestehen im gesamten Ernährungssystem, vom Hof bis zum Teller. Dazu gehören der ungleiche Zugang zu Ressourcen für die Lebensmittelproduktion und zu Marktchancen für Kleinbauern, ungleiche Machtverhältnisse zwischen großen Lebensmittelkonzernen und Erzeugern sowie der ungleiche Zugang zu angemessenen und nahrhaften Lebensmitteln für Verbraucher.“

Der Bericht umfasst sechs Kapitel, wovon das erste den konzeptionellen Rahmen liefert. Die Autor*innen erklären, warum der Kampf gegen Ungleichheit wichtig ist. Ungleichheit bedrohe Fortschritte im Bereich Ernährungssicherheit und Ernährung. Zudem schreiben globale Ziele wie die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) sowie Menschenrechtspakte die Beseitigung von Ungleichheit vor. Darüber hinaus gebiete es der natürliche Sinn für menschliche Gerechtigkeit und Fairness, der auch der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zugrunde liegt. Der Bericht definiert Ungleichheiten in Ernährungssystemen „als die beobachteten Unterschiede in der Ernährungssituation oder bei damit verbundenen Faktoren in Ernährungssystemen (z.B. dem Zugang zu Ressourcen für die Lebensmittelproduktion) zwischen Einzelpersonen und Gruppen (aufgeschlüsselt nach sozialer, wirtschaftlicher und geografischer Lage)“. Ein Diagramm veranschaulicht den konzeptionellen Rahmen und zeigt, wie die Ernährungssicherheit und Ernährung verbessert werden können, indem Ungleichheiten in Ernährungssystemen und in anderen damit verbundenen Systemen wie Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur, die alle für die Ernährungssicherheit relevant sind, angegangen werden. Ein nachhaltiger Wandel sei nur möglich ist, wenn die systemischen Treiber und Grundursachen von Ungleichheit verstanden und bekämpft würden.

Kapitel 2 beschreibt Muster und Trends bezüglich der Ungleichheit. „Zwar betreffen Ungleichheiten bei der Ernährungssicherheit vor allem die Bevölkerung in Afrika, Südasien und der Karibik, doch sie bestehen überall“, erklären die Autor*innen. Trotz Erfolgen beim Kampf gegen die Unterernährung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen untergräbt der weltweite Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Erwachsenen und Kindern bisherige Fortschritte. Zudem hat sich der Hunger in den meisten Weltregionen seit 2015 verschlimmert. Blickt man auf die Regionen, in die die Welt für den Welthungerbericht (SOFI) unterteilt wird, ist in Afrika der Anteil der Unterernährten mit 37,7% in Zentralafrika am höchsten, wozu Länder wie der Tschad und die Demokratische Republik Kongo gehören. In der Region „Lateinamerika und Karibik“ ist die Karibik besonders stark betroffen und 30,5% der Menschen sind unterernährt, während in Asien der Anteil mit 21% in Südasien und in „Nordamerika und Europa“ in Südeuropa mit 2,8% am höchsten ist. Bei der Ernährungslage gibt es auch geschlechtsspezifische Unterschiede und die Kluft wird hier immer breiter. Weltweit sind zahlenmäßig mehr Frauen als Männer von Hunger betroffen und der Schweregrad der Ernährungsunsicherheit ist bei Frauen höher. Zudem sind Menschen mit Behinderungen stärker bedroht, da sie auch häufiger in Armut leben. Studien zeigen dem HLPE zufolge, dass indigene Erwachsene in Australien ein fünf- bis siebenmal höheres Risiko haben, von Ernährungsunsicherheit betroffen zu sein als ihre nicht-indigenen Altersgenossen. In den USA ist der Anteil schwarzer, nicht-hispanischer Haushalte, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, mit 22,7% höher als bei weißen, nicht-hispanischen Haushalten mit 8,7%. Die Autor*innen stellen fest, dass mehr qualitative und besser nach Geschlecht, Standort, wirtschaftlichem Status, ethnischer Zugehörigkeit und anderen Faktoren aufgeschlüsselte Daten erforderlich sind, um Ungleichheiten in Ernährungssystemen systematisch zu quantifizieren und nachzuverfolgen.

Kapitel 3 untersucht die unmittelbaren Treiber von Ungleichheiten in Ernährungssystemen und verwandten Systemen. Die Autor*innen fokussieren sich auf drei Bereiche im Ernährungssystem: Ungleichheiten bei Ressourcen für die Lebensmittelproduktion, in Lebensmittelversorgungsketten sowie im Lebensmittelumfeld und beim Verhalten der Verbraucher*innen. Erstens bestehen nach wie vor große Ungleichheiten beim Zugang zu Ressourcen für den Anbau von Lebensmitteln. Ein klassisches Beispiel dafür ist die große und zunehmende Ungleichheit beim Landbesitz. Rund um den Globus und in den meisten Regionen der Welt mit Ausnahme Afrikas hat die Ungleichheit beim Landbesitz, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit 1975 zugenommen. Zweitens ist in den Versorgungsketten der ungleiche Zugang zu Finanzdienstleistungen eine Ursache von Ungleichheit: Für kleine Lebensmittelproduzenten und -unternehmen gibt es seit langem erhebliche Hürden bei der Inanspruchnahme von Krediten, Versicherungen und anderen Finanzprodukten, oder sie haben keinen Zugang zu Informationen und Technologien. Außerdem sind sie nur begrenzt in der Lage, sich an modernen Wertschöpfungsketten und Märkten, an Lagerung, Verarbeitung und Vertrieb sowie am internationalen Handel zu beteiligen und davon zu profitieren. „Große Händler, Verarbeiter und Einzelhändler wollen die Transaktionskosten für den Kauf kleinerer Mengen von mehreren Kleinbauern nicht tragen. Daher legen sie oft Mindestmengen und/oder Qualitätsstandards fest, die Kleinerzeuger kaum erfüllen können, vor allem wenn die Modernisierung und die Investition in Betriebsmittel eine Finanzierung und bessere Informationen erfordern“, erklären die Autor*innen das Dilemma. Drittens sind im Lebensmittelumfeld vor allem einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Minderheiten von Ungleichheiten und damit verstärkt von Ernährungsunsicherheit betroffen. Unmittelbar befeuert werden Ungleichheiten in Ernährungssystemen auch durch Probleme in anderen Systemen, wie der fehlende Zugang zum Gesundheit, Wasser und Bildung.

Kapitel 4 sucht nach den systemischen Treiber und tieferen Ursachen für Ernährungssicherheit und -ungleichheit. Viele Faktoren, die sich auf Ernährungssysteme auswirken, haben laut HLPE ihren Ursprung in diesen Systemen selbst. So schaden Klimawandel und Umweltzerstörung etwa den in Ernährungssektor arbeitenden Menschen und stellen eine Bedrohung für ihre Ernährungssicherheit und Ernährung dar, gerade dort, wo Menschen und Orte am stärksten von Veränderungen betroffen sind. Zugleich sind Ernährungssysteme Haupttreiber des Klimawandels, ebenso wie für den Verlust der biologischen Vielfalt und die Übernutzung von Wasser und Böden. Weitere Ursachen sind (markt)wirtschaftliche Faktoren, die das globale Ernährungssystem grundlegend verändert haben, indem sie Marktdynamiken, Finanzströme und Handelsmuster so gestalteten, dass Macht- und Eigentumsverhältnisse gefestigt wurden. Hierbei steche die Gestaltung und das Ausmaß des internationalen Handels sowie der Einfluss einer kleinen Anzahl privater Akteure hervor, die zunehmend die Kontrolle über die Marktgestaltung innehätten. „Dies hat die Ernährungsgewohnheiten auf komplexe Weise verändert und die Handlungsmacht der meisten Beschäftigten im Ernährungssystem eingeschränkt. Auch wenn es gewisse ernährungsbedingte Vorteile gibt, besteht die Sorge, dass der Übergang zu einer westlichen, Übergewicht befördernden Ernährungsweise die Ernährungslage verschlimmert, zunächst die Wohlhabenderen betrifft, aber dann allmählich zu einem Problem für die am stärksten marginalisierten oder sozioökonomisch benachteiligten Teile der Gesellschaft wird.“ Der Bericht benennt aber auch politische und institutionelle Faktoren wie Gewalt und bewaffnete Konflikte sowie Politik und Governance (z. B. Landpolitik, Agrarpolitik oder Arbeitsmarktvorschriften). Zudem erzeugten und verstärkten soziokulturelle Faktoren wie kulturelle Normen oder geschlechtsspezifische Gewalt bestehende Ungleichheiten.

Kapitel 5 benennt Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssicherheit und stellt Bereiche vor, denen Priorität einzuräumen ist, da sie das größte Potenzial zur Verringerung von Ungleichheiten aufweisen. Die Maßnahmen werden in vier Hauptkategorien eingeteilt: Lebensmittelproduktion, Versorgungsketten, Lebensmittelumfeld und -konsum sowie Rahmenbedingungen, allgemeiner Kontext und Governance. Bei der Lebensmittelproduktion nennt er Maßnahmen zur Schaffung eines gleichberechtigteren Zugangs zu Land, Wäldern, Vieh und Fischerei, die Anwendung agrarökologischer Prinzipien, die Gründung inklusiver Erzeugerorganisationen und mehr Geld für eine gerechtigkeitsorientierte öffentliche Forschung im Bereich Agrar- und Ernährungssysteme sowie andere öffentliche Investitionen im ländlichen Raum. Letzteres umfasst etwa die Beachtung von Aspekten der Gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit bei der Strategieplanung, denn dies kann z.B. bewirken, dass auf Nutzpflanzen oder Tierarten gesetzt wird, die für die Ernährungssicherheit der Haushalte, für marginalisierte Gruppen und Gegenden oder für schlechte Böden ohne künstliche Bewässerung besonders geeignet sind. Was die Lieferketten anbelangt, so priorisiert der HLPE inklusive Ansätze für die Wertschöpfungskette, die Entwicklung von Arbeitsschutzmaßnahmen, -strategien und -programmen für Beschäftigte im Ernährungssystem, die Berücksichtigung territorialer Ansätze bei der Vorhaben zu Ernährungssystemen und Regionalentwicklung, Investitionen in eine gerechtigkeitsorientierte Infrastruktur für Lagerung, Verarbeitung und Vertrieb von Lebensmitteln sowie Investitionen in verbesserte Informationssysteme, die digitale Technologien nutzen. Mit Blick auf Umgebung und Konsum von Lebensmitteln sind die wichtigsten Aktionsbereiche die Planung und Steuerung des Lebensmittelumfelds, sodass alle Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung Zugang zu günstigen, nahrhaften, sicheren und kulturell angemessenen Lebensmitteln haben, die Einbeziehung von Erkenntnissen über menschliche Verhaltensmuster bei der Ernährung in die Gestaltung von Politiken und Programmen sowie die Stärkung sozialer Sicherungssysteme.

Das sechste Kapitel enthält Empfehlungen für eine grundlegende Umgestaltung der Ernährungssysteme. Es gibt zehn allgemeine Empfehlungen, die in vier Gruppen unterteilt sind, aber die 10 Hauptempfehlungen sind unterfüttert mit vielen Unterpunkten, d.h. genauere und präzisere Empfehlungen, erläutert Bhavani Shankar bei der Präsentation, die als Video online abrufbar ist. Cluster A konzentriert sich auf die Beseitigung von Ungleichheiten in Ernährungssysteme. Die erste Hauptempfehlung lautet daher, dass „Staaten, zwischenstaatliche Organisationen, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft sektorübergreifend zusammenarbeiten sollten, um einen gerechteren Zugang zu Land, Wäldern, Wasserressourcen und anderen Ressourcen für die Lebensmittelproduktion zu gewährleisten, indem sie rechtebasierte Ansätze anwenden“. Als Unterpunkt empfehlen die Autor*innen, die Land- und Ressourcenrechte von Frauen, Bauern, indigenen Völkern und anderen marginalisierten Gruppen zu stärken, einschließlich der rechtlichen Anerkennung und des Erbrechts. Cluster B befasst sich mit Ungleichheiten in anderen Systemen. Eine Empfehlung lautet, dass Staaten den allgemeinen Zugang zu Dienstleistungen und Ressourcen sicherstellen sollten, die sich direkt auf die Ernährungssicherheit und Ernährung auswirken. Präzisiert wird dies damit, dass Staaten den universellen Zugang zu allen mit Ernährung in Zusammenhang stehenden Dienstleistungen gewährleisten müssen, darunter zu medizinischer Grundversorgung, Impfungen, Ernährungsbildung, sanitären Einrichtungen und sauberem Trinkwasser, um nur einige Beispiele zu nennen. Cluster C enthält Empfehlungen zur Bekämpfung sozialer und politischer Ursachen von Ungleichheit. Cluster D liefert Vorschläge zur Stärkung von Daten- und Wissenssystemen, die notwendig sind, um ein besseres Verständnis für Gerechtigkeitsaspekte in allen Bereichen zu bekommen, die für Ernährungssicherheit und Ernährung von Relevanz sind. Alle Empfehlungen mit weiteren Ausführungen und Bespielen sind im englischen 200-Seiten-Bericht oder der etwas knackigeren Zusammenfassung zu finden. (ab)

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