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14.07.2021 | permalink
UN: Corona lässt Zahl der Hungernden auf 811 Millionen steigen
Dramatische Rückschritte im Kampf gegen Unter- und Mangelernährung vermeldet der am 13. Juli von fünf UN-Organisationen veröffentlichte Welternährungsbericht. Angetrieben durch die Corona-Pandemie kletterte die Zahl der unterernährten Menschen weltweit im Jahr 2020 auf bis zu 811 Millionen – jeder Zehnte hungert! Laut der aktuellen Ausgabe des „The State of Food Security and Nutrition in the World” blieb der Anteil der hungernden Menschen an der Weltbevölkerung in den letzten fünf Jahren weitgehend gleich, während 2020 ein deutlicher Anstieg erfolgte. „Die letzten vier Ausgaben dieses Berichts offenbaren eine ernüchternde Realität: Die Welt ist weder bei der Erreichung des Unterziels 2.1 der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs), das ganzjährig für alle Menschen den Zugang zu sicheren, nährstoffreichen und ausreichenden Nahrungsmitteln sicherstellen will, noch bei der Erreichung des SDG-Unterziels 2.2, alle Formen der Mangelernährung zu beenden, grundsätzlich vorangekommen,“ schreiben die Leiter*innen der Welternährungsorganisation FAO, des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung, des UN-Kinderhilfswerks UNICEF, des Welternährungsprogramms und der Weltgesundheitsorganisation im gemeinsamen Vorwort zum Bericht. Selbst wenn sich die weiterhin erhofften Fortschritte einstellen, werden im Jahr 2030 voraussichtlich immer noch 660 Millionen Menschen hungern, 30 Millionen davon aufgrund der langfristigen Folgen der Corona-Pandemie – ein klägliches Scheitern der internationalen Gemeinschaft!
Den Autor*innen zufolge war es aufgrund von COVID-19 besonders schwierig, verlässliche Schätzungen für 2020 zu erstellen. Daher wird in der diesjährigen Ausgabe des Berichts erstmals eine Spanne für die Anzahl der Hungernden angegeben (720 bis 811 Millionen). Zieht man den mittleren Wert (768 Millionen) heran, so waren im Jahr 2020 rund 118 Millionen Menschen mehr von Hunger betroffen als noch im Vorjahr – betrachtet man den oberen Wert, waren es sogar 161 Millionen mehr. Beim Blick auf die regionale Verteilung verwenden die UN-Organisationen den mittleren Wert: Von den 768 Millionen Unterernährten lebten mehr als die Hälfte (54,4%) bzw. 418 Millionen in Asien, gefolgt von Afrika mit 281,6 Millionen (36,7%) und Lateinamerika und der Karibik mit 59,7 Millionen (7,8%). Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der Hunger leidenden Menschen in Asien um 57 Millionen, in Afrika um 46 Millionen und in Lateinamerika und der Karibik um 14 Millionen. Auch der Anteil der chronisch Unterernährten an der wachsenden Weltbevölkerung stieg innerhalb von nur einem Jahr deutlich an, von 8,4% auf 9,9% in 2020. Die prozentual am stärksten von Unterernährung betroffene Region mit dem schnellsten Zuwachs ist Afrika: Dort hungern fast 21% der Bevölkerung, während es 2019 noch 18% waren. Besonders besorgniserregend ist die Situation in Ostafrika, wo mehr als ein Viertel der Bevölkerung (28,1%) unterernährt ist, sowie in der Unterregion „Mittelafrika“, der die UN Länder wie Tschad und die Demokratische Republik Kongo zurechnet, und wo 31,8% der Bevölkerung Hunger litt. In Asien hungern 9% der Bevölkerung, während in Lateinamerika und der Karibik 9,1% der Menschen betroffen waren.
Der Bericht enthält nicht nur Schätzungen zu chronischer Unterernährung, sondern auch zu moderater Ernährungsunsicherheit: Demnach hatte 2020 rund 2,37 Milliarden Menschen keinen ganzjährigen Zugang zu angemessener Nahrung und waren gezwungen, aus Mangel an Geld oder anderen Ressourcen Abstriche bei der Qualität und/oder Menge der Nahrungsmittel zu machen, die sie zu sich nehmen. Gegenüber dem Vorjahr war dies ein Anstieg um fast 320 Millionen Menschen. Fast 12 % der Weltbevölkerung (928 Millionen Menschen) waren 2020 von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, was bedeutet, dass ihnen die Nahrungsmittel ausgingen, sie Hunger litten und im extremsten Fall tagelang nichts zu essen hatten. Das waren 148 Millionen Menschen mehr als noch 2019. Insgesamt nahm die moderate oder schwere Ernährungsunsicherheit im letzten Jahr so stark zu wie in den letzten fünf Jahren zusammen. „Leider deckt die Pandemie weiterhin Schwachstellen in unseren Ernährungssystemen auf, die das Leben und die Lebensgrundlage von Menschen auf der ganzen Welt bedrohen, insbesondere von den am meisten gefährdeten Menschen und jenen, die in fragilen Kontexten leben“, schreiben die Leiter*innen der fünf UN-Organisationen im Vorwort. In vielen Teilen der Welt habe die Pandemie zu einer Rezession geführt und den Zugang zu Nahrung gefährdet. Doch auch andere Faktoren stecken hinter den jüngsten Rückschlägen im Kampf gegen Hunger und Mangelernährung. „Dazu gehören Konflikte und Gewalt in vielen Teilen der Welt sowie klimabedingte Katastrophen überall“, heißt es dort weiter. Aber auch die hohe und anhaltende Ungleichheit, die sich in vielen Ländern noch verstärkt hat, habe die Lage verschärft.
Auch bei weiteren Indikatoren, die der Bericht jedes Jahr unter die Lupe nimmt, sieht die Lage verheerend aus: Mangelernährung mit all ihren verschiedenen Ausprägungen blieb weiterhin stark verbreitet und traf besonders Kinder hart. Im Jahr 2020 waren schätzungsweise 149 Millionen Kinder unter fünf Jahren zu klein für ihr Alter (‚stunted‘), mehr als 45 Millionen galten als ausgezehrt und damit zu dünn für ihre Körpergröße (‚wasted‘) und fast 39 Millionen waren übergewichtig. Auch hier betonen die Verfasser*innen des Berichts, dass das wahre Ausmaß noch weitaus schlimmer sein könnte, da Corona-Abstandsregelungen die Datenerhebung erschwerten. „Mangelernährung bei Kindern ist weiterhin eine Herausforderung, vor allem in Afrika und Asien. Auch die Fettleibigkeit bei Erwachsenen nimmt weiter zu, wobei weder auf globaler noch auf regionaler Ebene eine Trendwende in Sicht ist“ – so räumten die UN-Chefs das Scheitern im Kampf gegen die Mangelernährung im Vorwort ein. (ab)