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12.07.2021 | permalink
Welternährungsgipfel: Aufruf zu echter Nachhaltigkeit statt Greenwashing
Mehr als 800 zivilgesellschaftliche Organisationen, Bauernverbände und Agrar- und Ernährungsexpert*innen haben an Regierungen und Unternehmen appelliert, sich für eine tatsächlich nachhaltige Landwirtschaft einzusetzen. Sie fordern, Agrarökologie, ökologische und regenerative Landwirtschaft ganz oben auf die Agenda des UN-Welternährungsgipfels (Food Systems Summit) zu setzen, der im September in New York stattfinden wird, und prangern „Greenwashing“ und mangelnde Transparenz im Vorfeld des Gipfels an. Der am 7. Juli veröffentlichte Aufruf wurde initiiert von IPES-Food, einem internationalen Expertengremium, dem auch mehrere einst am Weltagrarbericht beteiligte Wissenschaftler*innen angehören, sowie vom Bio-Dachverband IFOAM-Organics International, Agroecology Europe, FiBL Europa und Regeneration International. Unterzeichnet haben Organisationen aus allen Regionen der Welt, darunter auch die Zukunftsstiftung Landwirtschaft. Die Unterzeichner betonen die Notwendigkeit einer Transformation der Ernährungs- und Agrarsysteme, um echte Nachhaltigkeit und die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) zu erreichen. Sie appellieren an Regierungen, Unternehmen und die Zivilgesellschaft, sich zu 13 zentralen Nachhaltigkeitsprinzipien für diese Transformation zu bekennen. Zudem werden anhaltende Versuche einiger Akteure kritisiert, den Begriff nachhaltige Landwirtschaft für sich zu vereinnahmen. „Im Vorfeld dieses UN-Gipfels haben bestimmte Gruppen mit der Bedeutung von Nachhaltigkeit ein falsches Spiel getrieben“, warnte einer der Initiatoren des Aufrufs, Emile Frison von IPES-Food.
Die Unterzeichner fordern Regierungen und Unternehmen auf, dem ‚schädlichen‘ Status quo in der globalen Landwirtschaft ein Ende zu setzen. „Die heute vorherrschenden Agrar- und Ernährungssysteme, die größtenteils von einer industriellen Logik der Skaleneffekte, Intensivierung, Spezialisierung und Vereinheitlichung angetrieben werden, sorgen weder für Ernährungssicherheit noch für eine angemessene Ernährung für alle. Sie führen uns gefährlich über die ‚Planetarischen Grenzen‘ hinaus, innerhalb derer sich die Menschheit weiter sicher bewegen kann, und untergraben so ihre eigene Grundlage“, heißt es in dem Aufruf. „Die konventionelle Landwirtschaft – mit ihrer starken Abhängigkeit von chemischen Inputs – hat Millionen Menschen im Stich gelassen“, erklärt Frison. „Sie laugt die Böden weiter aus, schadet der Artenvielfalt, heizt den Klimawandel an und zerstört Existenzen.“ Die Verfasser des Appells argumentieren, dass diese Herausforderungen nicht allein durch schrittweise Verbesserungen des aktuellen industriellen Modells bewältigt werden können. Stattdessen sei ein kühner Paradigmenwechsel nötig, um Agrar- und Ernährungssysteme neu zu gestalten. Eine Reform der Lebensmittelsysteme sei eine entscheidende Voraussetzung dafür, um die SDGs, die Ziele des Pariser Klimaabkommens und des Übereinkommens über die biologische Vielfalt zu erreichen und die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Bauern und anderer Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten, zu achten. „Ehrlich gesagt wird uns nichts anderes als eine Transformation der Ernährungssysteme in Sicherheit bringen“, betont Frison.
Das Dokument schlägt Agrarökologie, eine ökologische und regenerative Landwirtschaft als Alternativen vor. „Um aus der aktuellen industriellen Logik auszubrechen, rückt die Agrarökologie zunehmend in den Fokus des Diskurses über die Zukunft der Landwirtschaft und der Ernährungssysteme. Gleichzeitig reagiert der stetig wachsende Bio-Markt auf die steigenden Verbraucherwünsche nach gesunden, nachhaltig produzierten Lebensmitteln“, heißt es darin. „Alternative Begriffe wie regenerative Landwirtschaft, ökologischer Landbau und andere werden in verschiedenen Weltregionen aufgegriffen – sie eint der Versuch, die Agrar- und Lebensmittelsysteme auf eine integrierte Weise zu verändern.“ Laut Paola Migliorini von Agroecology Europe, einer der Initiatoren des Aufrufs, arbeiten diese Ansätze mit der Natur statt gegen sie. Die internationale Datenlage spreche für sie und könne nicht länger ignoriert werden. Diese unterschiedlichen Ansätze haben eine gemeinsame Basis, die auf 13 Prinzipien gründet, die in einem Bericht des High Level Panel of Experts on Food Security and Nutrition (HLPE), einem hochrangigen Expertengremiums des UN-Ausschusses für Welternährungssicherung (CFS), 2019 veröffentlicht wurden. Die unterzeichnenden Organisationen und Einzelpersonen fordern daher die Teilnehmer*innen des UN-Welternährungsgipfels auf, alle 13 vom HLPE dargelegten Prinzipien anzunehmen.
Die ersten beiden Prinzipien lauten Recycling und Reduzierung von Inputs: Nutze bevorzugt lokale, erneuerbare Ressourcen und schließe so weit wie möglich Ressourcenkreisläufe von Nährstoffen und Biomasse, und verringere oder vermeide die Abhängigkeit von zugekauften Inputs und erhöhe die Selbstversorgung. Weitere Prinzipien befassen sich mit Boden- und Tiergesundheit: „Sichere und verbessere die Gesundheit und Funktionsfähigkeit der Böden für ein besseres Pflanzenwachstum, vor allem durch das Management organischer Substanz und die Steigerung der biologischen Aktivität des Bodens“ und „stelle Gesundheit und Wohlergehen der Tiere sicher“, empfahl das HLPE. Das fünfte Prinzip fordert die Erhaltung und Verbesserung der Artenvielfalt, der funktionalen Vielfalt und der genetischen Ressourcen. Synergie als sechstes Prinzip zielt darauf ab, positive ökologische Wechselwirkungen, Synergie, Integration und Komplementarität zwischen den Elementen von Agrarökosystemen (Tiere, Pflanzen, Bäume, Boden und Wasser) zu fördern. Das siebte Prinzip strebt eine wirtschaftliche Diversifizierung in der Landwirtschaft an und soll sicherstellen, dass Kleinbauern größere finanzielle Unabhängigkeit und Möglichkeiten zur Wertschöpfung erlangen und zugleich in die Lage versetzt werden, auf die Nachfrage der Verbraucher zu reagieren. Weitere Prinzipien sind die gemeinsame Schaffung von Wissen, soziale Werte und Ernährungsgewohnheiten, Fairness, Konnektivität, die Verwaltung von Land und natürlichen Ressourcen sowie Partizipation.
Es bleibt abzuwarten, ob diese 13 Prinzipien tatsächlich so wie gefordert eine Rolle auf dem UN-Gipfel spielen werden. Für Louise Luttikholt von IFOAM - Organics International wäre das allerdings eine große Chance, um mit dem Stillstand und Status quo zu brechen: „Wenn es den Entscheidungsträgern und Wirtschaftsvertretern wirklich um gesunde Böden, gesunde Pflanzen, Tiere und Menschen oder gar um das Pariser Abkommen geht, dann ist dies eine einmalige Gelegenheit, sich unter einem Banner zu vereinen und sich zu diesen Prinzipien zu bekennen.“ Der Gipfel wird nach einem vorbereitenden Gipfel in Rom Ende Juli im September in New York stattfinden. In den letzten Monaten erntete er heftige Kritik von zivilgesellschaftlichen Gruppen aus aller Welt, die mangelnde Transparenz im Vorfeld der Veranstaltung anprangerten. In einem am 7. Juli veröffentlichten Papier warnte IPES-Food zudem, dass der Gipfel auch dazu genutzt werde, eine neue Art der Entscheidungsfindung voranzutreiben, die viele Stimmen in den Ernährungssystemen ausschließen könnte. Das Papier bezieht sich auf den Vorschlag, ein neues Gremium, einen „IPCC für Ernährung', zu schaffen, um Entscheidungen über die Zukunft der Ernährungssysteme zu optimieren. Die Verfasser befürchten, dass solch ein neues Gremium, so wie es derzeit geplant ist, das Risiko birgt, eine verengte Sichtweise der Wissenschaft durchzusetzen und demokratische Debatten zu unterbinden. Die Arbeit des HLPE, der bereits wissenschaftliche Leitlinien für Regierungen bereitstellt und dabei verschiedene Kenntnisse und Perspektiven aus dem gesamten Lebensmittelsystem berücksichtigt, würde so untergraben werden. (ab)