Ernährungssouveränität

Als erster UN-Prozess hat der Weltagrarbericht mit seinen 58 Unterzeichnerstaaten den Begriff der Ernährungssouveränität (food sovereignty) in die Debatte eingeführt und verbindlich definiert.
Entwickelt wurde er von der internationalen Kleinbauernorganisation La Via Campesina. Sie präsentierte ihn 1996 zum Welternährungsgipfel in Rom als antikoloniale Kritik an der Fremdbestimmung von Staaten durch die internationalen Handelsregeln der WTO und die neoliberalen Kreditauflagen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Ausgangspunkt dieser Souveränität ist die selbstbestimmte Produktion von Lebensmitteln, ihre Trägerinnen und Träger sind deshalb auch zuerst die Produzenten und dann die Konsumenten.

Dagegen definierte der Welternährungsgipfel Ernährungssicherheit (food security) als passiven Versorgungszustand, bei dem „alle Menschen jederzeit physischen und wirtschaftlichen Zugang zu ausreichender, sicherer und nahrhafter Ernährung haben, die ihre Bedürfnisse und Vorlieben befriedigt und ihnen ein aktives und gesundes Leben ermöglicht“.  Das Menschenrecht auf Nahrung (right to food), das in der UN-Sozialcharta von 1966 verankert wurde, ist definiert als „grundlegendes Recht eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein.“ Die 164 Staaten, die ihn ratifiziert haben, sind verpflichtet, den Zugang ihrer Bevölkerung zu angemessener Nahrung sicherzustellen.

Liberalisierung des Welthandels gefährdet Ernährungssouveränität

Ernährungssouveränität beschreibt kein einheitliches Patentrezept, sondern ein Konzept zur Demokratisierung der Lebensmittelproduktion, das fortentwickelt und unterschiedlichen Gegebenheiten angepasst wird. Wichtige Prinzipien sind das Menschenrecht auf Nahrung und deren Produktion, die Stärkung lokaler Märkte, gerechte Handelsbeziehungen und faire Preisbildung, existenzsichernde Einkommen, Organisationsfreiheit, Bildung, Entschuldung von Staaten, Sicherung des Zugangs zu fruchtbarem Land, Weiden, Fischereigründen, Wald, Wasser und Saatgut – wo nötig durch Agrar- und Landreformen – sowie die agrarökologische Pflege und der gemeinschaftliche Erhalt natürlicher Ressourcen.

Ernährungssouveränität fordert die Entwicklung lokaler und regionaler Selbstversorgung und möglichst enge Beziehungen zwischen Produktion und Verbrauch. Mit nationaler Autarkie als politischer Doktrin hat dies nichts zu tun. 
Als der Weltagrarbericht 2008 das „unwissen- schaftliche“ Konzept der Ernährungssouveränität wegen seiner wichtigen Erweiterung herkömmlicher Ernährungssicherheitskonzepte befürwortete und integrierte, erntete er dafür noch viel Kritik.
Seither wurde der Begriff Schritt für Schritt auch von offizieller Seite anerkannt. 2013 unterzeichnete der Generaldirektor der Welternährungsorganisation FAO, José Graziano da Silva, ein Kooperationsabkommen mit La Via Campesina, um im UN-Jahr der Familienlandwirtschaft 2014 gemeinsame Konzepte von Ernährungssouveränität zu entwickeln.

Ernährungssouveränität als Symbol urbaner Moderne

Ernährungssouveranitat ist längst auch zu einem Selbstbestimmungskonzept in den Industriestaaten und Städten geworden. Auch hier geht es um „Entkolonialisierung“ und aktive Veränderung des Verhältnisses zur geballten Wirtschafts-, aber auch Kommunikationsmacht von Lebensmittel- und Handelskonzernen. Für viele, besonders junge Leute in den Metropolen ist bereits selbst zu kochen ein Akt der Emanzipation. Vegane oder vegetarische, faire, lokale und biologische Küche und die Verwertung von vermeintlichem Abfall werden zum Symbol. Gemüseanbau auch in der Stadt wieder in eigene Hände zu nehmen in gemeinschaftlichen, interkulturellen, Schul- oder Nachbarschaftsgärten, städtische Imkerei, Lebensmittel-Kooperativen, „Solidarische Landwirtschaft“ (CSA), an der Kunden sich direkt mit Geld und Arbeit beteiligen, sind vielfältige Ausdrucksformen der Suche nach neuer Ernährungssouveranitat. Es geht um Selbstverwirklichung und die Überwindung von Entfremdung; aber auch um die alte Weisheit, dass Essen stets ein politischer Akt ist.

Fakten & Zahlen

Ernährungs-Souveränität wird als das Recht der Menschen und souveränen Staaten definiert, auf demokratische Weise ihre eigenen Agrar- und Ernährungspolitiken zu bestimmen.

Wir kämpfen für eine Veränderung der politischen Regulierungen und der Verwaltungsstrukturen, die unser Lebensmittelsystem beherrschen –– von der lokalen bis zur nationalen, von der europäischen bis zur globalen Ebene; und für eine Delegitimierung der Konzernmacht. Politiken müssen kohärent und aufeinander abgestimmt sein und unsere Lebensmittelsysteme und Ernährungskulturen schützen und stärken. Sie müssen auf dem Recht auf Nahrung basieren; Hunger und Armut beseitigen; die Erfüllung der grundlegenden Menschenrechte sicherstellen; und zur Klimagerechtigkeit beitragen –– in Europa und weltweit.

„Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung, nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt. Sie ist das Recht auf Schutz vor schädlicher Ernährung. Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne.“

Laut einer Studie des wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments haben 2015 rund 15% der europäischen Bauern mehr als die Hälfte ihrer Produkte direkt an den Verbraucher gebracht. Dies ermöglicht ihnen durch den Wegfall von Zwischenhändlern, einen größeren Anteil des Marktwertes der Produkte einzubehalten und kann so ihr Einkommen erhöhen. Lokale Ernährungssysteme und kurze Lebensmittelketten „stellen eine Alternative zu konventionellen, längeren Nahrungsmittelketten mit großen Händlern wie Supermärkten dar, in denen Verbraucher anonyme Lebensmittel kaufen ohne Hinweis auf den dem Produzenten gezahlten Preis. Sie sind eine Form, um Konsumenten und Produzenten zu verbinden und die landwirtschaftliche Produktion zu relokalisieren.“

Das Konzept ist auch als „Gegen-Konzept“ zur Ernährungssicherheit zu verstehen, da unter dem Begriff Ernährungssicherheit auch Programme und Maßnahmen fallen können, die sich negativ auf Kleinbauern und die ländlichen Armen auswirken.

Das Konzept der Ernährungssouveränität gilt grundsätzlich für alle Länder – reiche und arme – und definiert keine einheitliche politische Strategie, die als Patentrezept in verschiedenen Ländern weltweit anwendbar wäre.

  • AbL Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (La Via Campesina Deutschland), Infos, Kampagnen und Termine
  • Grassroots InternationalAktion: Lehrplan Ernährungs-Souveränität (Food for Thought and Action)
  • Slow Food engagiert sich für eine Änderung unseres Lebensmittelsystems
  • Swissaid Mit Ernährungssou- veränität gegen den Hunger
  • Attac Österreich zu Ernährungssouveränität
  • Solidarische Landwirtschaftbringt Verbraucher und Produzenten zusammen
  • GartenCoop Freiburg lebt ein erfolgreiches Modell solidarischer Landwirtschaft
  • Foodcoops Was ist eine Foodcoop und welche gibt es in Österreich?
  • Supermarktmacht Kampagne von NGOs und Gewerkschaften gegen den Missbrauch von Marktmacht
  • EuropAfrica Towards Food Sovereignty
  • ICTSD International Centre for Trade and Sustainable Development, Hintergrund- informationen zum Welthandel
Ernährungssouveränität & die Gemeinsame Agrarpolitik
Solidarische Landwirtschaft: Die Strategie der krummen Gurken
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